Na bitte. Geht doch. Noch will ich nicht sagen, dass sich 2025 die Ebbe im Kulturstrom in eine Flut guter Neuerscheinungen wandelt, aber die drohende Versandung ist für’s Erste gebannt. Im Februar ist das neue Buch von Joël Dicker erschienen. Ich habe „ein ungezähmtes Tier“ bereits mit Freude gelesen und stelle es Euch vor.
Ein ungezähmtes Tier – zwischen Luxus und Warzen
In „ein ungezähmtes Tier“ erzählt Joël Dicker die Geschichte eines spektakulären Raubüberfalls auf einen Juwelier. Der Coup sorgt im Juli 2022 in Genf für großes Aufsehen. Ist hier das perfekte Verbrechen gelungen? Und noch interessanter: wem ist das gelungen?
Perfekt sind nicht nur die geraubten Juwelen
Perfekt jedenfalls ist die Familie, die wir im Buch kennenlernen und zwar 20 Tage vor dem Juwelenraub. Das Ehepaar Sophie und Arpad Braun lebt mit reizenden Kindern ein Luxusleben in einer Villa am Waldrand eines mondänen Genfer Vororts. Sophie ist nicht nur mit außergewöhnlicher Schönheit gesegnet, sondern auch mit Zielstrebigkeit und Intelligenz. Ihre Anwaltskanzlei am Genfer See ist eine sogenannte erste Adresse, ihr attraktiver Ehemann Arpad arbeitet als Investmentbanker, Boni inclusive.
Über die Kinder lernen Arpad und Sophie das Ehepaar Greg und Karine kennen. Greg gehört zu einer Spezialeinheit der Polizei und Karine ist Verkäuferin. Das Ehepaar lebt in der „Warze“ – so nennt man im reichen Genfer Vorort abschätzig die Neubausiedlung, in der Greg und Karine sich so gerade eben den Traum vom Häuschen im Grünen erfüllen konnten.
Eine ungleiche Freundschaft – geht das gut?
Die beiden ungleichen Ehepaare freunden sich an. Karine ist geschmeichelt ob der neuen Freundschaft. Sie wünscht sich schon lange mehr vom Leben als die kleine Vorstadtidylle, die sie sich nur mit viel Stress und Arbeit leisten können. Gerne wäre sie so wie Sophie. denn deren Leben ist perfekt.
Oder?
Warum observiert Greg die Brauns heimlich? Er wird doch wohl rechtschaffene Gründe dafür haben? Verbergen sich erschütternde Wahrheiten hinter der glänzenden Fassade des privilegierten Lebens? Was verschweigt Arpad? Wer ist der mysteriöse Unbekannte, der Sophie mit einem schockierenden Geschenk an den Rand des Abgrunds bringt? Und was hat das alles mit dem geplanten Juwelenraub zu tun?
Die große Frage, die über dem Roman schwebt: Wer ist das ungezähmte Tier und welche Beute hat es im Visier?
Joël Dicker – Bestseller und immer wieder ungezähmte Tiere
Das schöne Genf ist nicht nur Schauplatz seines neuen Romans, sondern auch der Ort, an dem der Autor geboren wurde und lebt. Joël Dicker gelang 2012 mit seinem zweiten Roman „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ eine literarische Sensation. Weltweit wurde „Harry Quebert“ ein mit renommierten Preisen dekorierter Bestseller. Es folgte die – in meinen Augen noch bessere – „Geschichte der Baltimores“ und weitere Romane, die alle Bestseller-Status erreichten.

2010 debütierte Dicker mit der Novelle „le tigre“ und erzählte bereits damals eine Geschichte über ungezähmte Wildheit und die einzige Möglichkeit, mit der man Raubtieren beikommen könne – Hinterlist. So schließt er mit „ein ungezähmtes Tier“ gewissermaßen einen Kreis.
Maßstäbe, Erwartungen und Realität
Für mich als Leserin ist es immer eine große Freude, wenn ein neues Buch von Joël Dicker erscheint. Noch bevor ich die erste Seite aufgeschlagen habe, weiß ich, es wird gut. Joël Dicker kann gar nicht anders als gut schreiben und kaum einer denkt sich ebenso geniale wie überraschende Wendungen für seinen Plot aus.
Als Rezensentin habe ich seit den Baltimores mit Dicker ein kleines Problem. Möglicherweise dasselbe Problem, vor dem Joël Dicker beim schreiben steht. Das Problem ist der Maßstab. Denn Dicker wird an den Maßstäben gemessen, die er selbst gesetzt hat.
Wie viele Meisterwerke kann ein Autor in sich tragen?
Es heißt, jeder Mensch trägt eine Geschichte, ein Buch in sich. Die wenigsten mehr. Joël Dicker trägt viele Geschichten, viele Bücher in sich. Das ist unbestritten. Jede Geschichte, jedes Buch ist lesenswert – keine einzige Minute, die man mit der Lektüre seiner Werke verbringt, ist verschwendet. Aber – wie wahrscheinlich ist es, dass ein Autor mehr als ein Meisterwerk in sich trägt? Harry Quebert ist ein großartiges Buch, die Baltimores sind das nicht mehr erreichte Werk für die Ewigkeit.
Bei seinen letzten Büchern musste Dicker sich den Vorwurf gefallen lassen, er bediene sich einer sehr einfachen Sprache. Manche mutmaßten, er schreibe bereits mit Blick auf mögliche Drehbücher. Sein Wikipedia-Eintrag zitiert gar eine Kritik, in der es heißt: Dicker sei auf dem ‚Niveau des aufgeplusterten Trivialromans‘ angekommen. Wo der aufgeplusterte Trivialroman herkommt, ist mir nicht klar. Aber ich verstehe, woher der Vorwurf der einfachen Sprache kommt. Gleichwohl finde ich auch diesen Vorwurf ungerecht.
Ja – der Tag des Schachtelsatzes wird wohl eher nicht mit Hinblick auf Joël Dicker begangen. Soviel steht fest. Aber ich bin ihm dankbar dafür. Dickers Stil ist – und war – knapp, prägnant und verständlich. Dabei aber von einer kühlen Eleganz, die man erst einmal hinkriegen muss.
Schwafeln können viele, Joël Dicker hingegen kann formulieren
Somit ist meine Anmerkung, dass die Baltimores der nicht mehr erreichte Maßstab seien, Meckern auf ganz hohem Niveau.
Um es ganz klar zu sagen: „Ein ungezähmtes Tier“ ist ein äußerst geschickt komponiertes Lesevergnügen. Lege ich die Latte etwas niedriger, ist es ein großartiges Buch. An den Maßstäben dessen gemessen, was alles in den letzten Jahren so publiziert wurde, ist es ein sehr großartiges Buch.
Packende Unterhaltung zu bieten ist ein ehrenwertes Ziel
Gehen wir einmal davon aus, es war Dickers Ziel, packende Unterhaltung zu bieten. Meiner Meinung nach ein legitimes und ehrenwertes Ziel.
Durch eine meisterhaft konstruierte Thrillerebene und eine vielschichtige Erzählstruktur erreicht er dieses Ziel bestens. Man merkt deutlich, wieviel Spaß Joël Dicker beim plotten hat. Nie hat man den Eindruck, dass er um seine Ideen ringen muss. Im Gegenteil – man hat eher das Gefühl, seine Phantasie ist ein ebenfalls ungezähmtes Tier, dem er nur mit Mühe Zügel anlegt.
Der Großteil der Handlung spielt am Tag des Raubüberfalls und in den Tagen zuvor, etliches aber auch in den Jahren zuvor. Den Kapiteln vorangestellt ist ein Countdown, inklusive Zeitleisten. Enorm hilfreich. Bei Dickers Tempo muss der Leser sich ab und an vergewissern, dass er sich noch in der richtigen Zeit aufhält.
Wenn die Lüge nicht mehr trägt
Die ersten Schichten, die man als Leser offenlegt, sind noch recht offensichtlich. Aber je mehr Schichten man durchdringt, desto zarter und zerbrechlicher werden sie. Gewissheiten, die man gerade erst erworben hat, zerbröseln schneller als man umblättern kann. Man kann gar nicht mehr zählen, wie oft man als Leser denkt, jetzt hat man es. Oder? Ach nein, doch nicht. Aber jetzt. Jetzt ist der Punkt des „whodunit“ geknackt. Eine Wendung weiter wird man eines Besseren belehrt und ist geneigt, das miträtseln aufzugeben und sich ganz vom Autor an die Hand nehmen zu lassen.
Aber auch wenn man sich der Führung Dickers überlässt, muss man sich auf ein schwindelerrregendes Tempo einlassen, mit dem der Autor durch all seine Wendungen lotst. Ungeteilte Aufmerksamkeit fordert er, wenn sein Tempo runterfährt und die Sätze akzentuierter werden.
Das ist dann der Moment, in dem Wahrheiten endgültig aufgedeckt werden. In der Regel dann, wenn die Lüge nicht mehr trägt oder durch andere Lügen ersetzt werden kann.
Mitleid mit den Charakteren nicht gewünscht
Dickers wiederkehrendes Thema der Prägung unserer Welt durch unsere Väter findet auch in diesem Buch Raum. Wer aber eine tiefgehende psychologische Studie erwartet, wird enttäuscht. Auch als Gesellschaftsroman taugt das ‚ungezähmte Tier‘ nur bedingt.
Auffällig diesmal: Die Charaktere sind gut gezeichnet, aber sie sind nicht Dickers Kern-Anliegen. Seiner Hauptfigur Sophie begegnet der Autor mit einer Art widerwilliger Bewunderung. Der Leser bekommt eine Vorstellung von ihr, nahe fühlt er sich ihr nie. Dem Ehemann Arpad bringt Dicker eine Art gutmütige Toleranz entgegen, dem Polizisten Greg allenfalls Verständnis gepaart mit leichter Verachtung. Die meiste Empathie bekommt noch Gregs Ehefrau Karine, der man aufrichtig zugesteht, dass sie Besseres verdient hat.
Aber in Summe muss man sagen: Dicker hatte nicht vor, mit seinen Charakteren mitzuleiden oder auch nur uns seine Figuren besonders ans Herz zu legen. Wenn man an die Lektüre des ‚ungezähmten Tieres‘ zurückdenkt, wird man sich an die genialen Wendungen des Plots erinnern. Weniger an die Charaktere.
Dafür aber ist die in den Roman eingebettete Geschichte von der Pantherin eine gute Parabel für die heutige Zeit und zeigt uns gnadenlos eine heute oft außer Acht gelassene Wahrheit. Mehr wird nicht verraten, ich will hier schließlich keine Spoiler Warnung voranstellen.
Resümee zum neuen Roman von Joël Dicker
Wer sowohl einen sorgfältig konstruierten Thriller als auch schnörkellose Sprache zu schätzen weiß, ist mit Joël Dickers neuem Roman bestens bedient und wird auf hohem Niveau unterhalten.
Auch wenn „ein ungezähmtes Tier“ kein Buch ist, welches man ewig mit sich trägt und über das man lange nachdenkt – von mir gibt es eine klare Empfehlung.
Die Urlaubssaison steht vor der Tür. Habt Ihr Eure Lektüre schon gewählt? Es wäre schön, wenn ich Euch inspiriert habe. Hätte ich „ein ungezähmtes Tier“ nicht schon gelesen – es wäre meine erste Wahl.
Viel Spaß allen, die die Lektüre noch vor sich haben.
Links und Disclaimer
Kurz-Info zum Buch: Joël Dicker – ein ungezähmtes Tier. Erschienen am 27.02.2025, deutschsprachige Fassung über den Piper-Verlag, München. EAN 978-3-492-07344-8 , 432 Seiten. Umschlagabbildung: David de las Heras Umschlaggestaltung: Rothfos und Gabler, Hamburg
Offenlegung: Der guten Ordnung halber kennzeichne ich diese Rezension als Werbung, unbezahlt. Das Rezensionsexemplar wurde mir vom Piper Verlag ohne weitere Vorgaben zur Verfügung gestellt. Vielen Dank dafür sowie für die Möglichkeit des Cover-Downloads.
Wer neugierig geworden ist auf mehr von Joël Dicker: Hier geht es zu meinen bisherigen Rezensionen der Werke Dickers.
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Danke für deine Rezension, liebe Britta!
Ich bin ja ein bekennendes Viel-Lesetier – aber den Autor Joel Dicker kannte ich bisher nicht. Deine Leseempfehlung behalte ich im Hinterkopf.
Allein mit dieser Zeile ist mein Interesse geweckt: „Schwafeln können viele, Joël Dicker hingegen kann formulieren“.
Viele Grüße
Gabi
Gerne, liebe Gabi !
Joel Dickers Stil ist zunächst etwas gewöhnungsbedürftig, man muss sich da reinlesen. Aber ich mag all seine Bücher und die genannten besonders gerne.
Wenn Du was von ihm liest, sag mir gerne mal Bescheid, wie es Dir gefallen hat.
Das interessiert mich wirklich.
Liebe Grüße
Britta
Es scheint auf jeden Fall spannend zu sein. Ich bin nicht so die „Leseratte“, was Bücher betrifft. Wenn mich ein Buch packt, bin ich bis zum Ende dabei.
Liebe Grüße
Sabine
Liebe Sabine,
das „unheimliche Tier“ ist auf jeden Fall ein Buch, welches den Leser schnell packt. Ich habe es wie alle Bücher von Joel Dicker viel schneller durchgelesen als geplant. Es sollte eigentlich für die ganze Woche Callantsoog reichen, aber ich musste dann doch wissen, wie es weitergeht und hab abends viel länger gelesen als gedacht.
Liebe Grüße
Britta
Danke für die Vorstellung :).
Liebe Grüße!
Sehr gerne, liebe Jenny,
liebe Grüße zurück
Britta